Hottinger Literaturgespräche – Melinda Nadj Abonji
«Die kleine Schweiz ist eine literarische Grossmacht», textete die «Zeit», als Melinda Nadj Abonjis Roman «Tauben fliegen auf» 2010 den deutschen und den Schweizer Buchpreis gewann. Wobei Nationalität so ihre Tücken hat, wuchs die Autorin doch seit 1973 am Zürichsee auf, ist aber als Angehörige der ungarischen Minderheit 1968 im jugoslawischen Becˇej zur Welt gekommen, das heute zu Serbien gehört. So dass «Heimat» schon fast zwingend ein Thema des brillant geschriebenen Buches ist: die schweizerische, wo die beiden Mädchen Ildiko und Nomi im Café ihrer Eltern arbeiten,
aber auch die jugoslawische, wo sie nicht nur erdrückende Armut, sondern auch berührende Menschlichkeit erfahren. Die wahre Heimat, so wissen es die beiden am Schluss, ist nichts Gegenwärtiges, sondern jene «Atmosphäre der Kindheit», die in dem Buch auf wahrhaft bewegende Weise evoziert ist und an der Melinda Nadj Abonji schon 2004, im Erstling «Im Schaufenster im Frühling», ihre Könnerschaft bewiesen hat.
Text: Charles Linsmayer
Foto: Manfred Utzinger, utzi-foto.ch